Stellt euch eine Welt vor, in der der natürliche Tod nur noch in vagen Erinnerungen an die Vergangenheit existiert. Eine KI hat sich zum gerechten und umsorgenden Herrscher über die Welt erhoben. Es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Menschen können, wenn sie denn wollen, ein vollkommen sorgenfreies Leben leben. Es existiert nur ein Risiko: ein Scythe entschließt sich, dein unsterbliches Leben zu beenden. Das ist die Welt, in der Neal Shustermans grandioser Reihenauftakt spielt.
AUTOR Neal Shusterman
VERLAG Sauerländer
ERSCHIENEN 2017
SEITEN 528
PREIS 15,00 € (Paperback)
GENRE Dystopie, Science Fiction
REIHE Arc of a Scythe, Band 1
ISBN 3737355061
Das passiert…
Als die Cloud sich zum Thunderhead entwickelte und dieser die Macht erlangte, die Welt zu einer besseren zu machen, veränderte sich das Leben der Menschheit drastisch. Es wurde ein bedingungsloses Grundeinkommen geschaffen. Der Thunderhead steht jedem Menschen beratend so zur Seite, dass dessen Leben ein erfülltes ist. Und nicht zuletzt: der Mensch ist unsterblich geworden. Wird ein Mensch totenähnlich, so kann er in einem Revivalzentrum problemlos wiederhergestellt werden. Der medizinische Fortschritt erlaubt es den Menschen, sich – wenn gewünscht – zurückzusetzen auf ein gewünschtes Alter. In einer Welt jedoch, in der es keinen natürlichen Tod mehr gibt, braucht es einen Regulierungsmechanismus. Und dies sind die Scythe. Scythe sind ausgebildete Sensenmänner und -frauen, die nach bestimmten Quoten Menschen auswählen und sie nachlesen, d.h. töten.
Eines Tages werden Citra und Rowan von einem Scythe, Scythe Faraday, dazu ausgewählt, die Lehre zum Scythe bei ihm zu durchlaufen. In insgesamt einem Jahr sollen Citra und Rowan lernen, wie sie nach den hohen ethischen Selbstansprüchen der Scythe leben und wie sie schmerzlos und würdevoll Leben beenden. Doch es gibt einen Haken: eine rebellische Untergruppierung der Scythe, die sich von den moralischen Leitprinzipien immer weiter entfernt, hat Citra und Rowan ins Auge gefasst. Sie erlegen den beiden Lehrlingen, die leise Gefühle füreinander entwickelt haben, auf, dass nur einer von beiden Scythe werden kann. Und der Gewinner muss den Verlierer nachlesen.
In den Reihen der Scythe bricht ein dramatischer Machtkampf aus und Citra und Rowan müssen nicht zuletzt gegen ihr eigenes Schicksal ankämpfen.
Meinung
Rowan und Citra könnten nicht unterschiedlicher sein. Citra ist zielstrebig, entstammt einer sie liebenden Familie und wirkt auf den ersten Blick recht distanziert. Rowan wirkt ein wenig sorgloser, war immer nur das „vergessene“ Kind der Familie und doch schlummert in ihm das Talent, ein herausragender Scythe zu werden. Die beiden Protagonisten sind keine perfekten Helden. Ihre gemeinsame Geschichte keine vor Romantik triefende. Doch auch die „Nebenfiguren“ oder besser gesagt sekundären Hauptfiguren sind herrlich durchkomponiert. Der Leser wird verschiedenen Scythe begegnen, die entweder in ihrer moralischen Größe beeindruckend sind, wie bspw. Scythe Marie Curie, oder in ihrer Boshaftigkeit nicht zu übertreffen sind, wie bspw. Scythe Robert Goddard.
Bei den Figuren besonders spannend fand ich die Idee, dass die Scythe ihre Namen ablegen müssen und sich einen Namenspatron suchen – eine Person der vergangenen Zeiten, die Herausragendes geleistet hat. Von Legenden wie Marie Curie und Xenokrates, bis hin zu zeitgenössischen Wissenschaftlern wie Noam Chomsky und Popstars wie Beyoncé sind sie alle vertreten. Gerade letztere hat mich sehr schmunzeln lassen.
Was den Erzählstil anbelangt ist der Roman unfassbar spannend geschrieben. Ich als Langsamleserin und schnell die Konzentration verlierende Person hatte keine Probleme, auch mal ganze Stunden am Stück zu lesen und komplett in dem Buch zu versinken. Besonders spannend fand ich auch die immer wiederkehrenden Tagebucheinträge der diversen Scythe, die einen interessanten Einblick in das Leben als Sensenmann boten.
Die Handlung ist auf zwei Ebenen spannend: zum einen die Entwicklung der Beziehung zwischen Rowan und Citra – einer verbotenen und zur Verzweiflung verdammten Liebe. Und zum anderen die Rebellion und Umsturzwünsche der „neuen Garde“. Der Roman stellt in diesem Zusammenhang auch tiefgründige moralisch-ethische Fragen. Was passiert, wenn der Tod überwunden ist? Wie kann ein organisiertes Ableben gestaltet sein? Wie sollten die Personen ausgewählt werden. Und nicht zuletzt: darf einem Scythe seine Handlung Spaß machen? Ihn mit Stolz erfüllen?
Ich hatte kaum Erwartungen an den ersten Band der Scythe. Gelesen habe ich den Roman im Endeffekt deshalb, weil mir das Cover auf den diversen Buchblogs aufgefallen war und ich in der Bibliothek immer mal wieder dran vorbei lief und mir dachte: Schaut schon interessant aus. Und ich bin froh, dass ich letztendlich zu dem Buch griff. Seit langem konnte mich eine Dystopie – eines meiner Lieblingsgenre – mal wieder so richtig begeistern und aus den Latschen hauen. Das Worldbuilding von Scythe hat mich einfach vollkommen vereinnahmt. Der Thunderhead, das Scythetum, das in dieser Welt normale Leben – einfach unfassbar spannend, erschreckend und interessant. Shusterman ist hier m.E. ein großartiger Wurf gelungen.
Aus diesem Grund und weil Scythe für mich zu den Must-Reads in der Kategorie Dystopie gehört vergebe ich die volle Punktzahl.